Archivarin T-47: Rettungscode Nayra

 

Kapitel 1 – Die Koordinate

Der Wind auf dem Außendeck roch nach Ionensand und Versen.
Taryel stand an der Reling der Wortwind, die wie ein lebendiges Gedicht durch den Raum trieb.
Unter ihr lag das zerknitterte Raum-Zeit-Gewebe des Sektors Luma-Delta,
über ihr das Sternenband von Zhalir IX –
und direkt vor ihr, wie eingebrannt in die Sichtscheibe der Steuerstation,
flackerte die Koordinate.

NAYRA-792.

„Das ist sie.“
Taryel sprach leise, aber die Worte hallten durch den Schiffskern wie ein Befehl an das Universum.
Der Name allein reichte, um ein Dutzend Erinnerungen zu wecken –
nicht alle davon angenehm.

Hinter ihr klickten Stiefel.
Velira, die Seherin, trat an ihre Seite. Ihr Blick war in den Nebel unter der Galaxis gerichtet,
aber ihre Stimme war ganz bei Taryel.
„Du bist dir sicher, dass du sie noch erreichen kannst? Nach… allem?“

Taryel antwortete nicht sofort.
Sie blickte auf das kleine Gerät in ihrer Hand – das Lichtkompendium,
eine Sammlung fragmentierter Schattenbotschaften,
die eindeutig von Nayra stammten. Hilferufe, verkleidet als Datenfragmente.
Verzerrte Stimmen. Schleifen von Schmerz.
Und doch war da ein Muster,
klar genug für die Archivarin, es zu entziffern.

„System Nostara. Schattenfeld-Kern.
Zugriff gesperrt. Rettungscode erforderlich.“

„Sie ist da draußen“, sagte Taryel schließlich.
„Und sie glaubt nicht mehr, dass jemand kommt.“

Velira legte ihr ruhig eine Hand auf den Unterarm.
„Dann ist es Zeit, sie vom Gegenteil zu überzeugen.“

In der Crewhalle versammelten sich auch Solya,
die Flamme mit dem unerschütterlichen Herz,
und Mirek, die stille Jägerin im Mantel des Schweigens.
Jede von ihnen hatte eine Verbindung zu Nayra –
eine Geschichte, die sie nie ganz zu Ende erzählt hatten.

Jetzt war ihre Chance.

Taryel trat in die Mitte.
Sie aktivierte die Sternenkarte. Die Route wurde geladen.
Drei Punkte leuchteten auf – Prüfungen, bevor sie Nayra erreichen konnten.

Wüste der Wiederholungen

Nebel von Mimara

Tor der Entscheidung

„Wir reisen nicht nur zu ihr“, sagte Taryel.
„Wir reisen durch alles, was sie festhält.“

Das Schiff summte unter ihren Füßen.
Die Worte der Archivarin hatten den Kurs bestätigt.

Die Wortwind setzte sich in Bewegung.
Und irgendwo, in der Tiefe des Schattenfelds,
zitterte eine Hoffnung auf Wiedergeburt.

 

Kapitel 2 – Schleifen aus Sand

Der Übergang war rau.
Die Wortwind stürzte durch die Schichten aus Raumzeit wie ein Federkiel durch zähe Tinte.
Worte zogen Spuren hinter dem Schiff her –
verblasste Nachrichten, nie versandte Gedanken,
zu leicht, um Erinnerung zu sein,
zu schwer, um vergessen zu werden.

Als sie das Feld erreichten, wurde es still.
Keine Sterne.
Kein Puls.
Nur eine endlose Landschaft aus schimmerndem, goldenem Sand –
verwirbelt wie Speicherfragmente in einem alten Archiv.
Die Wüste der Wiederholungen.

Taryel trat hinaus.
Der Boden unter ihren Füßen war warm und weich,
aber er vibrierte – als wiederhole er in endlosen Wellen ein einziges, stummes Wort.
Jede Bewegung hinterließ ein Echo.
Jeder Schritt – eine Szene aus Nayras Vergangenheit,
die sich über den Himmel spannte wie ein defekter Filmprojektor.

Da war sie, wie sie schrie.
Wie sie schwieg.
Wie sie ging – und zurückkam.
Wie sie verzweifelt flehte und doch wieder allein war.
Immer wieder.
Schleifen.
Sand.

Velira schloss die Augen.
„Es ist nicht nur ihr Muster“, sagte sie leise.
„Es ist auch unser Zögern, sie zu unterbrechen.“

Solya ging in die Hocke und grub die Finger in den Sand.
„Dieser Ort will, dass wir aufgeben. Dass wir denken, es bleibt immer so.“
Sie spuckte ein Schimpfwort in die Düne.
„Aber nichts bleibt. Nicht mal Angst.“

Taryel trat in die Mitte der sich wiederholenden Szene.
Sie blickte in den Himmel –
sah Nayras Schatten sich wieder und wieder selbst verlieren,
immer denselben Satz sagen:

„Ich weiß nicht, wie ich da rauskomme.“

Die Worte schnitten durch den Sand wie Gravuren.
Die Luft wurde schwer.
Ein Teil von Taryel wollte fliehen.
Ein anderer kniete sich hin,
legte die Hand auf den Boden
und begann zu sprechen – leise, mit jener Stimme, die durch Verse das Triebwerk ihres Schiffes fütterte:

„Ich habe dich nicht vergessen.
Ich habe gesehen, wie du fielst.
Nicht nur einmal.
Nicht aus Dummheit.
Sondern aus Müdigkeit.
Und jetzt bin ich hier.
Nicht, um dich zu ziehen –
sondern, um dir den Punkt zu zeigen, an dem das Muster brechen kann.“

Der Himmel zuckte.
Die Schleife stockte.

Mirek, bis dahin reglos, trat endlich aus dem Schatten einer Düne.
Sie hob die Hand –
warf einen kleinen, leuchtenden Kristall in die Szene,
und zum ersten Mal veränderte sich der Ablauf.

Nayra zögerte.
Ihr Schatten drehte den Kopf.
Und dann geschah etwas Neues:

Sie blinzelte.
Sie sagte nichts.
Aber sie sah anders aus.

Der Sand begann zu fließen.
Die Wüste verwandelte sich –
nicht in eine Lösung,
aber in eine Möglichkeit.

Velira lächelte.
Solya stand auf.
Mirek nickte still.
Und Taryel flüsterte nur:

„Ein Riss reicht.“

Die Wortwind wartete.
Der nächste Halt war tiefer, dunkler, formloser.
Die Nebel von Mimara.

Und diesmal, das wusste Taryel,
würden nicht Nayras Schleifen im Zentrum stehen –
sondern ihre eigenen.

 

Kapitel 3 – Der Nebel von Mimara

Die Wortwind verlangsamte sich.
Die Papiersegel zitterten.
Nicht vor Sturm –
sondern vor Ungewissheit.

Vor ihnen lag ein Feld aus schimmerndem Grau,
weder fest noch flüssig,
weder leer noch erfüllt.
Nur Dunst.
Und etwas darin, das fühlte.

„Mimara.“
„Nebelschicht aktiv.“
„Warnung: Identitätsintegrität gefährdet.“

Sir Wulfran trat ans Steuer.
„Der Nebel fragt nicht, wer du warst.
Er fragt: Wer wärst du, wenn niemand hinsieht?“

Taryel trat vor.
Hinter ihr: Velira, Solya und Mirek –
still, wach, aufrecht.
Keine Heldenpose. Kein Befehl.
Nur ein Atemzug.

Dann betrat sie vorsichtig den Nebel.

Und die anderen folgten.
Unauffällig, aber entschlossen.
Jede flüsterte ihren eigenen Vers –
aber alle begannen mit denselben zwei Worten:

„Ich bin…“

Taryel sprach als Erste:

„Ich bin Taryel, die Tiefgründige,
Bezwingerin der Emotionen
und Kriegerin für alle im Schatten verloren Gegangenen.
Ich stehe hier demütig und ergriffen im Nebel
und hoffe, mich tief genug erkannt zu haben,
um mich nicht zu verlieren.“

Velira murmelte:

„Ich bin Velira, die Seherin des Herzens,
die das Dunkle streichelt und das Licht nicht fürchtet.“

Ein Riss geht durch den Nebel –
und eine Stimme antwortet:

„Und wer bist du, wenn du niemanden trösten kannst?“

Solya strahlte:

„Ich bin Solya, das Feuer,
das niemals fragt, ob es brennen darf.“

Der Nebel zitterte –
und hauchte:

„Und wenn dich keiner wärmt – wo ist dein Glanz dann?“

Mirek trat zuletzt vor.
Leise, fast trotzig:

„Ich bin Mirek.
Ich bin da, wenn keiner damit rechnet.“

Der Nebel schwieg kurz –
dann rief er:

„Und wenn dich keiner sieht – bist du dann noch da?“

Der Nebel umschloss sie wie ein lebender Gedanke.
Er nahm ihre Worte auf –
„Ich bin…“ –
und formte daraus Schatten,
die sich bewegten wie Erinnerungen mit eigenem Willen.

Taryels Worte hatten sich tief eingeprägt.
Der Nebel flüsterte sie zurück –
aber leicht verzerrt, wie ein Echo durch ein verzogenes Herz:

„…Bezwingerin der Emotionen?“, hauchte es.
„Oder doch nur ihre Gefangene?“

Ein Schatten trat vor –
nicht feindlich, aber neugierig.
Er trug Taryels Gesicht. Nur ohne Licht in den Augen.

Sie stand vor ihm.
Und sagte:

„Ich bezwinge die Emotionen, nicht weil ich gegen sie kämpfe,
sondern weil ich sie wie eine Artistin auf einem Seil balanciere.
Von außen mag es so aussehen,
als würde ich jeden Moment fallen.
Aber glaube mir – innerlich bin ich mir sicher,
dass ich das schaffe.“

Der Schatten schwieg.
Dann hob er langsam den Blick –
und zum ersten Mal
leuchteten Taryels Augen in seinem Gesicht.

Er wiederholte ihre Worte –
nicht wie ein Vorwurf,
sondern wie einen Lehrsatz,
den er gerade zum ersten Mal glaubte:

„Ich bezwinge sie, indem ich balanciere…
nicht durch Kontrolle.
Nicht durch Flucht.
Sondern durch Mut, oben zu bleiben –
auch wenn der Wind kommt.“

Der Schatten streckte Taryel die Hand entgegen –
nicht, um sie zu testen.
Sondern um sich ihr anzuschließen.

Er war nicht mehr gegen sie.
Er gehörte zu ihr.

Die Nebel begannen, sich zurückzuziehen.
Nicht besiegt –
aber beeindruckt.

Die Wortwind rief leise.
Ihre Seiten knisterten wie ein aufgeschlagenes Kapitel,
das wissen will, was auf der nächsten Seite steht.

Nur eine Prüfung blieb:
Das Tor der Entscheidung.

 

Kapitel 4 – Das Tor der Entscheidung

Die Wortwind hob sich aus den Nebeln.
Hinter ihr schloss sich Mimara –
nicht feindlich, sondern ruhig.
Als hätte dieser Ort etwas zurückerhalten,
das er lange bewacht hatte.

Jetzt lag nur noch eine Prüfung vor ihnen.
Das Tor der Entscheidung.

Keine Kreatur bewachte es.
Kein Feind lauerte.
Nur ein Riss in der Realität –
geformt aus all dem,
was Nayra nicht mehr sehen konnte,
und allem,
was ihre Gefährtinnen längst erkannt hatten.

Taryel setzte sich ans Steuer.
Der Nebel lag noch in ihrer Stimme,
als sie sagte:
„Das lief…“
Dann stockte sie.
„…ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.“
Sie atmete aus –
nicht aus Erschöpfung,
sondern weil sie wusste:
Noch war es nicht vorbei.

„Na gut, sei es drum. Wir haben später Zeit, darüber nachzudenken.
Jetzt ist Wichtigeres zu tun.“

Sie gab die Koordinaten frei
und sprach die Worte,
die das Schiff in Bewegung setzten:

Die Wortwind knarzte ehrfürchtig unter ihren Händen,
als der Vers sich in die Konsole aus Papier, Licht und Gedanken einbrannte.

Der Raum öffnete sich.
Nicht wie ein Sprung durch den Hyperraum,
sondern wie ein Vorhang,
der sich allein durch Wahrheit zerteilen ließ.

Das Tor der Entscheidung war kein Bauwerk.
Kein Portal.
Kein Instrument.

Es war ein Zustand,
ein lichtdurchwirkter Spalt in der Welt,
gewebt aus Zweifeln, Möglichkeiten –
und der leisen Hoffnung,
dass eine Wahl noch existierte.

Sir Wulfran stand am Rand des Stegs.
Sein Blick war gesenkt,
als spräche er mit einer Erinnerung.
„Was auch hinter diesem Tor liegt“, sagte er,
„du kannst sie nicht ziehen.
Du kannst ihr nur die Hand hinstrecken.“

Solya trat näher.
Ihre Stimme war ungewohnt leise.
„Glaubst du, sie will mitkommen?“

Mirek schüttelte nur leicht den Kopf.
„Oder glaubt sie, sie hat’s nicht verdient?“

Velira schloss die Augen,
als hörte sie etwas,
was nur sie vernahm.
„Die Entscheidung liegt nicht bei uns.
Aber… vielleicht braucht sie jemanden,
der ihr zeigt, dass es überhaupt eine Wahl gibt.“

Dann trat Taryel vor das Tor.
Es pulsierte –
nicht wie ein Herz,
sondern wie eine Erinnerung,
die zu lange im Dunkeln gelegen hatte.

Sie sprach.
Nicht laut.
Nicht pathetisch.
Nur wahr.

„Nayra…
ich weiß, dass sich im Moment alles unausweichlich und erschöpfend anfühlt.
Dass das Chaos vertrauter ist als die Stille danach.
Aber ich bitte dich –
glaube mir, wenn ich dir sage:
Es wird besser.
Vielleicht nicht gleich.
Aber du wirst dich wieder spüren.
Du wirst lernen, dich zu lieben.
Und du wirst das Leben lieben –
so wie es ist.
Mit deiner Tochter.
Vielleicht irgendwann wieder mit jemandem,
der dich sieht.
Wirklich sieht.
Alles, was du tun musst…
ist ein Schritt.
Ein kleiner Schritt in unsere Richtung.“

Sie streckte die Hand aus.
Die Geste war kein Zug. Kein Griff.
Nur ein Angebot.

Der Riss wurde still.
Die Welt hielt den Atem an.
Und dann –
eine Bewegung.

Nayra trat aus dem Licht.
Zögerlich.
Nicht mehr so, wie sie sich selbst sah.
Nicht mehr nur das Echo ihrer Angst.

Erschöpft.
Verloren.
Aber da.

Ihr Blick suchte.
Dann fand er Taryels Hand.

„Wirklich?“
„Nur ein kleiner Schritt?“

Taryel nickte.
Und Nayra ging.

Ein einziger Schritt.

Das Tor leuchtete auf –
nicht grell,
nicht triumphierend,
sondern wie Sonnenlicht auf ruhigem Wasser.

Sir Wulfran murmelte:
„Es ist getan.“

Solya wandte sich ab,
als würde sie etwas aus dem Auge wischen.
Mirek schnaufte und brummte etwas über
„Staub in der Luft“.
Velira lächelte –
nicht als Reaktion,
sondern aus Erkenntnis.

Nayra stand nun bei ihnen.
Zitternd.
Aber aufrecht.
Lebendig.

„Ich wusste nicht…
dass ich das gebraucht habe.“

Die Wortwind hob ab,
getragen vom ersten Wind eines Neubeginns.

Sie flogen zurück –
aber nichts war mehr, wie es gewesen war.

Und Taryel hatte bewiesen,
dass Hoffnung nicht laut sein musste.

Nur echt.

 

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