Gefunden

Band 2 der Parallelwelten

Über das Buch

Juliana trägt ein Erbe in sich, das sie nicht versteht – und eine Sehnsucht, die sie nicht abschütteln kann.
Als sie einem wortkargen Jäger begegnet, der mehr mit Schatten als mit Menschen spricht, beginnt eine Reise, die sie beides kosten könnte: ihre Vergangenheit – und ihr Herz.

Gemeinsam durchqueren sie eine Welt, in der uralte Kräfte erwachen, und etwas Dunkles sich durch Nebel, Blut und Erinnerungen windet.
Doch während um sie herum das Chaos wächst, entsteht zwischen ihnen etwas Unerwartetes: Vertrauen. Zart. Ungesagt. Echt.

Juliana muss entscheiden, wem sie glauben kann – und wer sie selbst jenseits von Pflicht und Angst sein will.
Denn manchmal bedeutet Heilung nicht, sich zu retten – sondern gefunden zu werden.

Ein Fantasy-Roman über Verbundenheit, Instinkt und den Mut, sich zu öffnen – gegen jede Wahrscheinlichkeit.

Leseprobe: Prolog

Die Schenke war erfüllt vom dumpfen Murmeln der Gäste, dem Knacken des spärlichen Feuers und dem Klirren von Krügen, die auf grobes Holz trafen. Dicker Rauch hing unter der niedrigen Decke, und irgendwo spielte jemand eine klägliche Melodie auf einer verstimmten Laute. Doch trotz des Geräuschpegels wirkte der Raum wie in zwei Hälften geteilt: vorne das Leben – laut, ruppig, schmutzig –, hinten ein Schweigen, das schwerer wog als jedes Wort.

Dort, in der dunkelsten Ecke, saß er. Allein. Der Mantel wirkte wie ein Teil seiner Haut, staubgrau, hart. Ein Schwert ruhte an seiner Seite, aufrecht gelehnt gegen den Tisch, als wäre es bereit, bei der kleinsten Bewegung zu sprechen. Schwarzes, mittellanges Haar fiel ihm locker ins Gesicht, doch es war das Weiß seiner Augen, das sie sofort erkannte. Kein Zweifel. Das war er.

Milos.

Julianas Herz schlug so heftig, dass sie dachte, man müsse es hören. Ihre Finger verkrampften sich um den Riemen ihrer Tasche, während sie auf der Schwelle stand und zögerte. Sie hatte lange nach ihm gesucht – den Spuren gefolgt, den Geschichten, dem Gerücht, das aus einer Lagerfeuerlegende zur letzten Hoffnung geworden war. Und nun stand sie da, nur ein paar Schritte entfernt. Noch konnte sie gehen. Noch war es nicht zu spät, sich ein anderes Ziel zu suchen.

Doch das war eine Lüge. Denn es gab kein anderes Ziel. Nur ihn.

Sie setzte sich langsam in Bewegung, Schritt für Schritt durch die stickige Wärme, an groben Männern und misstrauischen Blicken vorbei, bis sie vor seinem Tisch stand. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Hauch.

„Milos?“

Er hob nicht sofort den Blick. Erst nach einem Atemzug sah er zu ihr auf. Weiß traf Bernstein. Und obwohl sein Ausdruck ruhig war, war da etwas Prüfendes in seinem Blick. Als würde er sie mit einem einzigen Wimpernschlag lesen.

Ein Nicken. Dann ein Finger, der auf den leeren Platz ihm gegenüber zeigte. „Setz dich.“

Juliana tat es, langsam, bedacht, und verschränkte die Hände unter dem Tisch. Ihre Handflächen waren kalt. Ihr Magen ein einziger Knoten. Sie zwang sich, ihm in die Augen zu sehen, doch ihre Stimme versagte kurz. Dann, leise:

„Ich… habe dich gesucht.“

Milos lehnte sich leicht zurück. Die Flammen warfen zitterndes Licht über seine Züge. „Das hab ich mir gedacht. Man kommt nicht zufällig an meinen Tisch.“ Er musterte sie. „Was willst du von mir?“

Juliana schluckte. Die Worte waren da. Sie waren einfach. Und doch – sobald sie gesprochen wurden, gab es kein Zurück. Diese Frage würde entscheiden, was aus ihr werden würde. Oder ob sie scheiterte, bevor sie überhaupt beginnen konnte.

„Ich möchte, dass du mich mitnimmst“, sagte sie schließlich. „Ich möchte von dir lernen. Ich möchte mit dir auf Monsterjagd gehen.“

Er schwieg. Kein Stirnrunzeln, keine Miene. Nur Stille. Und sie sprach weiter, bevor der Mut sie wieder verließ.

„In meiner Familie sind einige Jäger. Mein Vater war einer der besten, und mein Bruder Attila folgt in seinen Spuren. Sie… haben mir viel beigebracht. Das Jagen, Spurenlesen, das Töten, wenn es sein muss.“ Sie zögerte. „Aber es reicht nicht. Ich will mehr. Und ich weiß, dass ich es von dir lernen kann.“

Er schien sie zu durchbohren mit seinem Blick. Dann: „Dein Vater ist ein Jäger. Und du kommst allein zu mir. Warum?“

Juliana zögerte – kurz, dann ließ sie den Rest fallen. „Mein Vater ist… kein gewöhnlicher Mann. Er ist ein Werwolf. Ich bin sein Blut. Ein Viertel. Ich kann mich verändern – wenn ich will. Nicht wie andere. Ich habe Kontrolle. Meistens.“

Ein kurzes Zucken durchfuhr Milos' Braue. Kein Urteil. Nur Interesse.

„Und deine Mutter?“

„Diplomatin“, sagte sie. „Selina. Sie hat uns das Denken beigebracht. Das Abwägen. Und Geduld… zumindest versucht.“

Ein leises, beinahe unsichtbares Schmunzeln spielte um Milos’ Lippen. Dann wurde er wieder ernst.

„Du hast Kraft. Herkunft. Einen eigenen Willen. Das spricht für dich. Aber das reicht nicht. Warum willst du das hier wirklich?“

Juliana atmete tief durch. Dann legte sie alles in ihre Worte, was in ihr war.

„Weil ich helfen will. Weil ich Menschen schützen möchte, die sich nicht selbst schützen können. Weil ich nicht an der Seitenlinie stehen will, während andere kämpfen und sterben. Ich will einen Beitrag leisten. Ich will der Welt zeigen, dass mein Blut mich nicht zu einem Monster macht. Sondern zu jemandem, der sie jagt.“

Ihre Stimme wurde leiser. „Und… ich möchte meinen Platz finden. Ich will meinem Vater zeigen, dass er stolz auf mich sein kann. Ich möchte dem Erbe meines Namens gerecht werden.“

Ein langer Moment verging.

Dann nickte Milos.

„Gut.“

Juliana starrte ihn an. „Du meinst—?“

„Morgen früh brechen wir auf. Schlaf dich aus. Es wird kein leichter Weg. Aber er gehört jetzt dir.“

Das Zimmer war einfach, aber sauber. Juliana lag auf dem Rücken, die Hände auf dem Bauch verschränkt, die Decke bis zum Kinn gezogen. Ihr Herz schlug noch immer schnell. Sie ging das Gespräch immer wieder durch. Seine Stimme. Sein Nicken. Dieses eine Wort: Gut.

Sie fühlte Erleichterung, tief und warm. Sie war auf dem richtigen Weg. Sie würde von ihm lernen. Sie würde wachsen. Und vielleicht – irgendwann – würde sie es selbst schaffen, eine zu sein, zu der jemand aufblickte.

Was der nächste Tag bringen würde? Die nächsten Wochen, Monate – Jahre?

Sie wusste es nicht.

Aber sie war bereit, es herauszufinden.

Mit einem Lächeln auf den Lippen und einem pochenden Herzen, das sich nicht beruhigen ließ, schloss sie die Augen.

Der Morgen war still und kühl, in den Gassen hing noch der Nebel der Nacht. Ein grauer Schleier hatte sich über das Dorf gelegt, und feine Eiskristalle glänzten auf den hölzernen Fensterläden wie winzige Spiegel der aufgehenden Sonne.

Juliana trat aus der Taverne. Die Tür fiel leise hinter ihr ins Schloss, und für einen Moment blieb sie auf der Schwelle stehen. Ihr Atem stand weiß in der Luft. Die Kälte kroch unter den Mantel, aber ihr Herz war warm – auf eine nervöse, flimmernde Art.

Milos wartete bereits. Er stand ruhig am Wegesrand, den Blick auf den Horizont gerichtet. Die dunkle Silhouette seines Körpers hob sich kaum vom grauen Morgen ab, nur die weißen Augen fingen das Licht, als sie sich langsam zu ihr wandten.

„Bereit?“ fragte er.

Juliana nickte. „Bereit. Ich denke...“

Sie zögerte. „Wohin gehen wir?“

Ein kurzes Zucken seiner Schultern. „Zuerst Vorräte. Dann Pferde. Und dann... brechen wir auf zur Feste Varhen.“

Er trat zu ihr, seine Stimme ruhig, aber bestimmt. „Der Winter kommt. Die Monster werden träge, die Aufträge seltener. In der Feste sammeln sich die Jäger. Wir trainieren, halten uns bereit. Für dich ist es die Gelegenheit, zu lernen. Zu zeigen, was du kannst.“

Juliana nickte, mehr zu sich selbst als zu ihm. Ein Anfang. Ein echter.Der Stall lag am südlichen Rand des Dorfes. Die Bretter waren alt, das Stroh trocken, und der Geruch nach Heu und Leder war seltsam beruhigend.Milos führte einen Schimmel an den Zügeln hinaus – kräftig, mit wachsamen Augen, aber ruhig in der Bewegung. Juliana ging ein paar Schritte weiter, und da war er – ein Rappe, so schwarz wie die Nacht ohne Sterne. Seine Ohren zuckten kurz, als sie sich näherte, dann ließ er sich bereitwillig führen.

Sie betrachteten ihre Tiere einen Moment lang schweigend. Dann war es Juliana, die das Schweigen brach. Ihre Hand lag auf dem Hals ihres Pferdes, fast zärtlich.„Ich nenne ihn Shadow“, sagte sie leise. „Er ist leise, wachsam… wie ein Schatten, der dich nicht verlässt.“

Milos warf ihr einen Seitenblick zu. „Ein düsterer Name. Schatten ziehen Schatten an.“

Juliana lächelte leicht. „Dann nenn du deinen doch Light. Dann gleichen wir uns aus.“

Er schnaubte – ob amüsiert oder skeptisch, war schwer zu sagen. „Ich hab meinen Pferden nie Namen gegeben“, sagte er schließlich. „Sie laufen. Tragen mich, wenn ich’s brauche. Mehr nicht.“

„Aber jetzt ist es anders“, entgegnete sie ruhig. „Er trägt dich nicht nur, Milos. Er wird dein Gefährte. Dein Verbündeter in der Stille zwischen den Kämpfen. Er verdient einen Namen.“

Milos sah zu seinem Schimmel. Eine Weile sagte er nichts.

„Light also“, sagte er dann leise und klopfte dem Schimmel auf die Flanke. „Passt zu ihm. Und zu dir.“

Sie sah ihn fragend an.

„Du kommst mit Dunkelheit. Willst lernen, kämpfen. Aber du suchst Licht. Es steckt in dir. Vielleicht… mehr, als du weißt.“

Juliana senkte kurz den Blick, überrascht von der ungewohnten Sanftheit in seiner Stimme. Dann hob sie das Kinn und trat näher zu ihm.

„Und du, Milos? Was suchst du?“

Er antwortete nicht sofort. Die Schatten in seinen Augen schienen sich zu regen. Dann sah er zum Horizont, wo die ersten, fahlen Sonnenstrahlen durch das Grau brachen.

„Ich suche nicht mehr. Ich finde nur noch.“

Ein Moment der Stille legte sich zwischen sie, voller Dinge, die man nicht gleich aussprach. Dann zogen sie die Zügel an. Shadow und Light setzten sich in Bewegung – Schwarz und Weiß, Seite an Seite, auf einem Weg, der alles verändern würde.