Verloren
Band 1 der Parallelwelten
Über das Buch
Juliana ist eine Suchende.
Nach Wahrheit. Nach Zugehörigkeit. Nach dem Licht in einer Welt, die jeden Tag dunkler wird.
Als eine uralte Macht im Verborgenen erwacht, droht das Gleichgewicht der Reiche zu kippen.
Juliana verlässt ihr Zuhause, getrieben von einer Ahnung – und gerät in einen Strudel aus Magie, alten Bündnissen und Kräften, die niemand mehr kontrollieren kann.
Getrieben von Mut, Zweifeln und einer Vergangenheit, die sie nicht loslässt, begibt sie sich auf einen Weg, der alles von ihr fordert.
Und während sie zwischen Loyalität und Selbstverlust taumelt, beginnt sie zu ahnen:
Manchmal bedeutet Rettung nicht, etwas zu bewahren – sondern loszulassen.
Ein Fantasy-Roman über das Ringen mit der Dunkelheit, über Entscheidungen, Schuld –
und über die Kraft, sich selbst nicht ganz zu verlieren.
Leseprobe: Prolog
Juliana kauerte im Dickicht, die Dunkelheit um sie herum war undurchdringlich und schwer. Die gelben Augen, in denen sich Entschlossenheit und Wildheit spiegelten, suchten nach dem Ziel. Ihre Gesichtszüge waren sowohl von wildem Temperament als auch von tiefem Gefühl geprägt und ihre spitzen Eckzähne, die sich bei jedem Atemzug leicht zeigten, verstärkten den Eindruck von ungebrochener Willenskraft.
Sie hockte nur wenige Meter von dem alten, verwitterten Häuschen entfernt, dass wie ein Relikt aus einer längst vergangenen Zeit vor ihr stand. Die Wände aus morsch gewordenem Holz schienen sich unter dem Druck der umklammernden Ranken zu biegen, als würden sie bald zusammenbrechen. Pilze sprossen aus dem feuchten Boden und krallten sich an den verrottenden Brettern fest, während das stetige Summen der Mücken die Stille durchbrach, die über diesem verlassenen Ort lag. Die Luft war feucht, der Geruch nach Moder und verwittertem Holz allgegenwärtig. Ihre Füße versanken tief im morastigen Boden, und jedes Mal, wenn sie sich bewegte, zogen sich ihre Stiefel schwer aus dem Sumpf.
Juliana spürte den ständigen Druck der Nässe, die in diesem Teil der Welt herrschte. Seit Wochen hatte sie sich durch dieses unerbittliche Terrain gekämpft, doch die Feuchtigkeit und der Schlamm waren nicht das Einzige, die ihr zusetzten. Ihr Vater und ihr Bruder, die sich gerade leise von beiden Seiten an die Hütte anschlichen, warfen ihr einen mahnenden Blick zu, als sie einen leisen Fluch ausstieß. Seit Wochen folgten sie Hinweisen auf eine mysteriöse Kreatur, die die umliegenden Dörfer terrorisierte. Heute Nacht sollte die Jagd zu Ende gehen.
Während sie im feuchten Unterholz verharrte, schweiften Julianas Gedanken zu der Nacht zuvor zurück, als sie gemeinsam unter dem Sternenhimmel lagerten. Es war eine jener seltenen Nächte, in denen die Wolken sich verzogen hatten und der klare Himmel die Sterne freigab. Das Feuer, das sie entzündet hatten, war längst niedergebrannt, und die letzten Glutstücke warfen ein sanftes Licht auf die Gesichter ihrer Familie. Viktor, ihr Vater, hatte still ins Feuer geblickt, bevor er zu sprechen begann.
„Juliana,“ hatte er gesagt, seine Stimme ruhig und tief, „ich weiß, dass du mehr tun willst, als nur aus der Deckung heraus zu beobachten. Aber du musst verstehen, dass dies keine gewöhnliche Jagd ist. Die Kreaturen, denen wir nachstellen, sind gefährlich – sie sind unberechenbar.“
Juliana, die sich auf ihre Ellenbogen gestützt hatte, spürte, wie die Worte in ihr widerhallten. „Vater, ich weiß, was ich tue. Ich habe trainiert, genauso wie Attila. Ich will nicht nur zusehen, wie ihr kämpft, ich will helfen. Ich kann das.“
Attila, der mit verschränkten Armen dagesessen hatte, hob den Blick vom Feuer und musterte seine Schwester. „Du bist ungeduldig, Juliana. Impulsiv. In diesem Kampf geht es nicht nur darum, stark zu sein, sondern auch darum, einen kühlen Kopf zu bewahren. Diese Kreaturen werden jeden Fehler ausnutzen.“
Juliana biss die Zähne zusammen, doch bevor sie etwas erwidern konnte, legte ihr Vater eine Hand auf ihre Schulter. „Deine Sensitivität ist eine Gabe, die unschätzbar wertvoll ist,“ sagte Viktor sanft, „aber sie kann auch eine Schwäche sein, wenn du dich von deinen Gefühlen überwältigen lässt. Es geht nicht darum, dass ich dir nichts zutraue – es geht darum, dich zu schützen.“
„Aber wie soll ich jemals lernen, wenn ich immer nur zusehen darf?“ Julianas Stimme war fest und Viktor konnte die Entschlossenheit darin hören. Sie wollte sich beweisen, sie wollte ihren Platz in dieser Jagd einnehmen.
Attila sah zu Viktor, der seufzend nickte. „Deshalb bist du hier bei uns,“ sagte Attila schließlich. „Wir wollen, dass du besser wirst. Aber das braucht Zeit, Juliana. Du bist nicht wie wir. Und das ist in Ordnung. Aber wenn du zu schnell vorgehst, könnte das dein Ende bedeuten. Wir wollen nicht, dass dir etwas zustößt.“
„Ich werde vorsichtig sein,“ hatte Juliana schließlich versprochen, ihre Hand fest um das Medaillon ihrer Mutter gelegt, dass sie immer um den Hals trug. „Ich werde euch nicht enttäuschen.“
Viktor hatte sie an diesem Abend in die Arme genommen, und sie hatte die Wärme und Geborgenheit gespürt, die nur ein Vater schenken konnte. Doch in seinem festen Griff lag auch die Sorge, die er nie ganz aussprechen würde. Sie wusste, dass er sie liebte – aber sie wusste auch, dass er Angst hatte, sie zu verlieren.
Zurück im Sumpf zuckte Juliana bei einem knackenden Geräusch zusammen und wurde aus ihrer Erinnerung gerissen. Sie zwang sich, ruhig zu bleiben und konzentrierte sich auf die Umgebung. Die Hütte stand still da, nichts schien sich zu rühren. Doch als sie ihre Augen schloss und tief durchatmete, verstärkten sich ihre Sinne. Sie konnte das modrige Holz, die schlammige Erde und das faulige Wasser riechen, doch hinter diesen vertrauten Gerüchen lag noch etwas anderes, etwas Vertrautes, aber zugleich Unheimliches. Gerade als sie versuchte, es zu identifizieren, flog die Tür der Hütte mit einem Knall auf, und ein schriller Schrei durchbrach die nächtliche Stille.
Im selben Moment stürmten ihr Vater und Bruder auf das Monster zu, das aus der Dunkelheit hervorbrach. Juliana hob instinktiv ihre Armbrust und visierte das Ziel an.
Das Wesen, das aus der Hütte trat, war eine Verkörperung der Nacht selbst. Seine Haut, so blass, dass sie fast durchsichtig wirkte, spannte sich über langen, dürren Knochen, die bei jedem Schritt unter der Oberfläche hervortraten. Es war größer als Attila, eine Gestalt von imposanter Statur, und jeder seiner Schritte ließ den Boden unter ihm erzittern, als ob die Erde selbst vor seiner Macht erzittern würde.
Das lange, schwarze Haar hing ihm fettig und zerzaust ins Gesicht, verdeckte jedoch nicht die leuchtend roten Augen, die wie zwei brennende Kohlen in den leeren Höhlen seines Schädels glühten. Diese Augen starrten Juliana direkt an, durchdringend und voll unstillbarem Hunger. Keine Schatten begleiteten seine Bewegungen, und als es seinen Kopf zur Seite neigte, konnte sie erkennen, dass sein massiver Körper keinerlei Reflexion auf der feuchten Oberfläche des Sumpfes warf.
Die Arme des Wesens hingen lang und unnatürlich an seinen Seiten, und die Hände endeten in krallenartigen Fingern, die wie schwarze Dolche leuchteten. Jeder Atemzug war ein heiseres Keuchen, ein Widerhall der verlorenen Lebenskraft, die es von seinen Opfern gestohlen hatte. Doch es war nicht nur seine Gestalt, die bedrohlich wirkte. Es war die Aura der unersättlichen Gier, die von ihm ausging, eine Gier nach dem Leben, das ihm selbst verwehrt war.
Juliana spürte, wie ihr Herz schneller schlug, während die Welt um sie herum in Dunkelheit versank. Diese Kreatur des endlosen Hungers und der Verdammnis, war kein gewöhnlicher Gegner. Es war ein Wesen, das von den tiefsten, dunkelsten Begierden beherrscht wurde, getrieben von der Sehnsucht nach dem, was es einst war und niemals wieder sein würde. Und in diesem Moment wusste sie, dass dieser Kampf nicht nur eine Jagd war – es war ein Kampf ums Überleben.
Und plötzlich begann ihr Blick zu verschwimmen, als die Kreatur sich ihr zuwandte. Seine Augen fixierten sie, und für einen Augenblick verwandelte sich sein verzerrtes Gesicht in das freundliche Antlitz ihrer Mutter. Juliana stockte der Atem. War das wirklich ihre Mutter, die da vor ihr stand? Ein leises Lächeln schlich sich auf die Lippen des Wesens, doch es war eine kalte, grausame Nachahmung des Lebens, das es verloren hatte. Juliana zögerte, und in diesem Moment veränderte sich alles.
Ohne nachzudenken, zielte sie auf ihren Bruder Attila und drückte ab. Der Bolzen flog, zielgenau wie immer, doch im letzten Moment wich Attila zur Seite aus, und der Bolzen streifte nur sein linkes Auge. Das Wesen, das sie für ihre Mutter hielt, stürzte sich auf ihren Vater, doch Viktor reagierte blitzschnell. Er vollführte eine halbe Drehung und rammte sein Schwert tief in den Rücken der Kreatur, die unter dem wuchtigen Hieb in zwei Teile zerschnitten zu Boden sank.
Juliana schrie auf, rannte zu dem leblosen Körper und fiel auf die Knie. Tränen strömten über ihre Wangen, als sie das Gesicht der Frau betrachtete, die sie für ihre Mutter gehalten hatte. "Warum hast du das getan?", schrie sie ihren Vater an, die Verzweiflung in ihrer Stimme unüberhörbar. Viktor packte sie an den Schultern und schüttelte sie so heftig, dass ihr Nacken schmerzte. "Sieh hin!", befahl er mit einer Dringlichkeit, die keine Widerrede duldete.
Widerwillig hob Juliana den Blick und sah, wie das Bild vor ihren Augen zu verschwimmen begann. Statt ihrer Mutter lag dort nun das Monster, das sie zuvor in der Tür gesehen hatte. Die Erinnerung an die Illusion fühlte sich unwirklich an, doch das Wesen vor ihr war real – und tot. Ein Vampir, getötet von der Hand ihres Vaters.
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