Von Höhlen und Felsen
Man sagte, in den hohen, wilden Bergen hausten noch die Kindgebliebenen.
Sie waren Relikte einer alten Zeit – Männer, die nie gelernt hatten zu fühlen, zu verstehen, zu bitten statt zu fordern. Als die neue Ordnung entstand und die Frauen sich zusammenschlossen, blieb ihnen nichts als der Rückzug. Keine Frau hatte mehr Geduld für ihre Unreife, ihre Überheblichkeit, ihre ewig gleiche Leier von Anspruch und Enttäuschung. Und so zogen sie sich zurück, tief in die Wälder, in Höhlen, in verlassene Gehöfte ohne Türen, weil niemand sie mehr besuchen wollte.
Manchmal, so heißt es, findet man einen von ihnen. Einen, der aus Lehm und Stöcken eine Frau gebaut hat, mit Moos als Haar und runden Steinen als Augen. Er redet mit ihr, als sei sie echt. Manchmal streitet er sogar mit ihr. Die, die ihn fanden, sagten, es war fast rührend. Aber niemand blieb. Niemand hatte Mitleid – nicht, weil man hartherzig war, sondern weil Mitleid einst genau solche Männer groß gemacht hatte.
Andere Kindgebliebene fanden sich in Gruppen zusammen. Sie lernten, wie man Bier braute – und vergaßen dabei, wie man zuhört. Sie tanzen nackt ums Feuer, grölen Lieder, die keiner mehr hören will, und rufen sich gegenseitig König, Held oder Alphamann. Es stört niemanden. Solange sie dort draußen bleiben, dürfen sie tanzen, trinken, grölen. Die Welt hat sich weitergedreht.
In den Städten und Dörfern leben nun die Frauen in Gemeinschaften. Starke, kluge, liebevolle Netzwerke, in denen kein Mensch übersehen wird. Freundschaft zählt mehr als Besitz, Fürsorge mehr als Kontrolle. Kinder wachsen dort auf, wo sie willkommen sind. Und kein einziger Gedanke wird verschwendet an Männer, die nur genommen haben.
Nur einmal im Monat verändert sich etwas: Dann beginnt die Vorbereitung auf das Fest. Frauen, die sich ein Kind wünschen, begeben sich in einen geschützten Bereich. Männer, die den Wesenstest bestanden haben – eine lange, herausfordernde Prüfung von Herz, Geist und Verhalten – dürfen teilnehmen. Ihre Gesundheit wird geprüft, ihr Wesen beobachtet, ihre Vergangenheit durchleuchtet. Niemand bekommt Zutritt, weil er will. Nur, wenn er würdig ist.
Und selbst dann entscheiden die Frauen. Jede einzelne. Frei. Selbstbestimmt.
Heute ist einer dieser Tage. Und Tilda steht zum ersten Mal am Rand des Festplatzes. Noch ist alles still. Das Gras glitzert vom Tau, und der Wind trägt den Geruch von Lavendel und Eisen heran. Sie trägt das weiße Band der Ungebundenen – jene, die nicht gekommen sind, um zu wählen, sondern um zu verstehen.
In ihrer Tasche liegen Notizen. Fragen. Skizzen. Und zwischen den Seiten ein verblichenes Bild aus der Zeit vor dem Letzten Krieg: ein Mann mit weichen Augen und einem Kind auf dem Arm. Man sagt, solche Männer habe es auch gegeben. Aber sie waren zu wenige – oder zu leise.
Der Letzte Krieg liegt fünfhundert Jahre zurück. Damals, als noch Männer über Länder herrschten, als Krieg als Mittel galt, um Größe zu beweisen, als Stärke sich daran maß, wie viele andere man kontrollieren konnte. Es war ein Krieg der Übergriffe, der Gier, der alten Triebe. Territorium, Gene, Machterhalt – alles, was einst biologisch Sinn machte, hatte längst keinen Platz mehr in einer zivilisierten Welt. Doch die Männer, die sich an der Spitze hielten, hielten an diesem alten Sinn fest, bis alles in Flammen stand.
Am Ende blieben vor allem Frauen. Nicht, weil sie verschont worden waren – sondern weil sie sich zurückgezogen, vernetzt, geschützt hatten. Weil sie aufgehört hatten zu kämpfen – und angefangen hatten zu überleben. Aus der Asche dieser Welt entstand eine neue Ordnung. Eine Gesellschaft geformt durch Fürsorge, durch Zusammenarbeit, durch leises Denken statt lauten Forderns.
Tilda hatte sich gut vorbereitet. Mentorinnen hatten sie wochenlang begleitet, ihr Wissen weitergegeben, sie geschult im Erkennen alter Verhaltensmuster. Sie hatten ihr Mut gemacht – und sie gewarnt. Denn Tilda hatte nie das Gefühl gekannt, nicht genug zu sein. Sie hatte nie gezweifelt an ihrem Wert, an ihrer Stimme, an ihrem Platz in der Welt. Doch die Mentorinnen sagten ihr: „Männer haben ein natürliches Talent, genau dieses Gefühl in uns zu wecken. Sie tun es nicht immer mit Absicht – aber oft mit Wirkung. Damit wir bleiben. Damit wir zweifeln. Damit sie nicht wachsen müssen, weil wir anfangen, uns zu hinterfragen.“
Und obwohl solche Muster längst bekannt sind, obwohl sie in den Frauennetzen aufgefangen werden können – der Nachhall bleibt. Worte können Spuren hinterlassen, die selbst im hellsten Licht noch Schatten werfen.
Tilda weiß das. Und trotzdem will sie es tun. Einfach reden, sagt sie. Aber tief in ihr weiß sie: Es wird mehr als das.
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